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Auf Spurensuche in einem Land, in dem jeden Tag 1000 Menschen an Aids sterben

Die Kanzlerin, das Baby und ein kleines Wunder

17.11.2007

Als die Kanzlerin Südafrika besuchte, entstand ein rührendes Foto: die mächtigste Frau der Welt mit einem aidskranken Baby im Arm.

Als die Bundeskanzlerin Südafrika besuchte, entstand ein rührendes Foto: die mächtigste Frau der Welt mit einem aidskranken Baby im Arm. Wer ist dieses Mädchen? Auf Spurensuche in einem Land, in dem jeden Tag 1000 Menschen an Aids sterben.

Video: Aidswaisen in Afrika

[jwplayer player=“1″ mediaid=“39451″] Es ist Samstagabend, als ungewöhnliche Fotos von Angela Merkel (53) Redaktion erreichen. Das bewegendste zeigt, wie die winzigen Finger eines aidskranken Mädchens nach ihrer Hand greifen. Die Bundeskanzlerin lächelt dabei anders als auf Tausenden offiziellen Bildern: erfüllt von Fürsorge und Zärtlichkeit. Wer nicht lächelt, ist das Baby. Das Foto entstand, als Merkel am 6. Oktober das Tygerberg-Krankenhaus in Kapstadt besuchte. Name und Geschichte des Mädchens mit den traurigen Augen sind unbekannt. In einem Land, in dem eine Viertelmillion HIV-positiver Kinder und 1,2 Millionen Aidswaisen leben, in dem jeden Tag 1000 Menschen an Aids sterben und sich 2000 neu mit dem HI-Virus infizieren, sorgen Einzelschicksale nur noch für Schulterzucken. Muss man sich damit abfinden? Nein. Wir fliegen nach Kapstadt und beginnen unsere Spurensuche dort, wo das Foto aufgenommen worden ist: in der Ithemba Ward, der „Station der Hoffnung“, die 2001 von der Hilfsorganisation Hope Cape Town gegründet wurde. Seitdem gelang es nicht nur, ein Zentrum für aidskranke Kinder aufzubauen, sondern auch 23 Pflegerinnen auszubilden, die direkt in den Townships arbeiten. Sie klären über die Aidsgefahren auf, koordinieren Hilfe für Betroffene, verteilen Nahrung, Medizin und – trotz des Vatikan-Verbots – Kondome. „Ein Herz für Kinder“ unterstützt die Arbeit von Hope Cape Town und weitere Hilfsprogramme für aidskranke Kinder in Afrika. Wir treffen hier die deutsche Kinderärztin Dr. Monika Esser. Sie hat das Mädchen vier Monate lang mitbehandelt, kuriert und aufgepäppelt. Sie verrät den Namen der Kleinen. Sie heißt Kholosa. Kholosa, erzählt die Ärztin, hatte vom ersten Tag ihres Lebens nur Pech: Sie steckte sich schon bei der Geburt an, obwohl die Geburtsklinik von der HIV-Infektion der Mutter wusste. „Die Medikamente, die eine Übertragung von der Mutter aufs Baby verhindern sollen, sind eigentlich zuverlässig“, erklärt die Ärztin. „Kholosas Risiko lag bei 1 zu 25.“ Nach diesem Schicksalsschlag musste Mutter Zingiswa (29) schnell einsehen, dass sie sich allein um die kranke Tochter kümmern musste. Vater Mashwabade (31) wohnt bei seinen Verwandten, hat mit einer anderen Frau noch ein älteres Kind. Als Gelegenheitsarbeiter lebt er von der Hand in den Mund. An Unterhalt oder gar Ehe war nicht zu denken. Die alleinerziehende Mutter suchte sich einen Job – als Putzfrau in einem Gästehaus für monatlich 1100 Rand (115 Euro). Der Aberglaube ihres Volks, der Xhosa – zu dem auch Nelson Mandela gehört -, bringt Aids noch mit Hexerei in Verbindung. Aidskranke müssen die Verstoßung aus Familie und Gesellschaft fürchten. Deshalb musste die Mutter ihr eigenes Schicksal und das ihrer Tochter geheimhalten. Die wechselnden Babysitter erfuhren nichts von der Krankheit. Fatale Folge: Das Baby, gewöhnlich zu Hause versorgt von arbeitslosen Familienmitgliedern, bekam ihre lebensnotwendigen Medikamente (Antiretrovirale) nicht regelmäßig, die Therapie verpuffte. „Wir vermuten außerdem, dass Kholosa gestillt wurde, als die staatliche Gratis-Milch-Versorgung nach einem halben Jahr ausgelaufen ist“, sagt die Kinderärztin. Für das Baby sei die mit dem Aidsvirus infizierte Muttermilch Gift gewesen. „So ist das hier: 20 Euro im Monat entscheiden über Leben oder Tod.“ Anfang Juli brachte die Mutter ihr wimmerndes Kind auf die „Station der Hoffnung“. 6,3 Kilo wog Kholosa mit ihren anderthalb Jahren – so viel wie ein gesundes Baby mit sechs Monaten. Sie war nicht mehr in der Lage, Nahrung oder Medikamente aufzunehmen. Das Aidsvirus hatte ihr Immunsystem zerstört. Die Ärzte diagnostizierten Tuberkulose. Für die Dritte-Welt-Krankheit Kwashiorkor (Protein-Kalorien-Mangel) waren die Symptome eindeutig: orange verfärbte Haare, Hungerbauch. „Wird sie sterben?, fragte die Mutter. Die Krankenschwestern schwiegen betreten. Niemand glaubte mehr an Kholosa. In Afrika sterben 80 Prozent der aidskranken Kinder in den ersten 24 Monaten, wenn sie nicht von Anfang an richtig behandelt werden. „Dass Kholosa es geschafft hat, ist für uns alle ein kleines Wunder“, sagt die Ärztin. „Unglaublich, was für ein Lebenswille in diesem Mädchen steckt.“ Nach vier Monaten wog Kholosa immerhin zehn Kilo – und durfte die Klinik verlassen. Auf Weisung der staatlichen Behörden wurde sie im Kinderheim untergebracht. So lange die Eltern ihre Lebensverhältnisse nicht geordnet haben, ist sie nur hier vor weiterer Vernachlässigung sicher. Die gute Nachricht: Morgen wird Kholosa in diesem Heim ihren zweiten Geburtstag feiern. Wir dürfen dabei sein. In aller Früh machen wir uns auf den Weg, um Kholosas Mutter abzuholen. Sie wohnt in den schwarzen Townships, 40 Kilometer außerhalb von Kapstadt. Wo die Straßen immer noch keine Namen haben. Wo Hütten Wellblech an Wellblech stehen. Davor, dahinter: Müll, Hunde, Kinder, Hunde, Müll. Arbeitslosenquote: über 40 Prozent. Sex zählt zu den wenigen billigen Vergnügen, Kondome sind bei den meisten Männern verpönt. Was zählt schon die abstrakte Gefahr eines Aidstodes in ein paar Jahren, wenn man nicht weiß, wo nächste Woche das Essen herkommt? Ignorante Politiker reden ihnen immer noch ein, der beste Schutz vor Aids sei, regelmäßig rote Bete zu essen. Kholosas Mutter lebt in einem vergleichsweise komfortablen, hellblauen Häuschen. Sie teilt die vielleicht 6 mal 6 Quadratmeter mit Schwestern, Bruder, Schwägerin und Neffe (3). Für Kinderbetten oder gar Spielzeug ist kein Platz. Die Kleinen schlafen zwischen den Erwachsenen. Große Überraschung: Kholosas Vater ist zu Besuch, im Trainingsanzug. Kein einziges Mal hat er sich in den letzten Monaten in der Klinik blicken lassen. Jetzt will er dabei sein, wenn seine kleine Tochter – er hat mit einer anderen Frau noch ein älteres Kind – Geburtstag feiert. „Ich habe immer für Kholosa gebetet“, versichert er uns. Das Kinderheim ist von einer dicken Mauer umgeben. An einer Stelle steht, in Kinderschrift: „Did you hug your child today?“ – „Haben Sie heute schon Ihr Kind umarmt?“ Drinnen schlägt uns der Geruch von Desinfektionsmitteln entgegen, irgendwo plärrt ein Fernseher. Vorbei an Gitterbetten, an schüchtern lächelnden Kindern mit verbrannter Gesichtshaut oder mit tennisballgroßen Tumoren, die ihnen aus dem Kopf wachsen. Hat jemand heute schon diese Kinder umarmt? Endlich das Esszimmer. Vor einem grünen Plastiktischchen sitzt ganz allein, mit einer Breischüssel – Kholosa. Happy birthday! Kholosa schaut noch genauso ernst wie bei ihrer Begegnung mit der Kanzlerin. Sie muss auch noch immer täglich acht Tabletten schlucken. Es dauert eine Weile, bis sie ihre Mutter erkennt und die Hände nach ihr ausstreckt. Und noch länger, bis sie die Scheu vor den anderen Besuchern verliert. Vor dem fremden Mann im Trainingsanzug, der ihr Handküsse gibt und verspricht: „Ab jetzt werde ich mich um dich kümmern.“ In einem Jahr könnten wir, die Reporter, gern wiederkommen und uns davon überzeugen. „Ich will ein guter Mensch sein“, sagt er. Kholosas Mutter lacht bitter auf: „Du trinkst, du verschwendest das ganze Geld“, wirft sie ihm an den Kopf. Ihre Schwestern seien die Einzigen, auf die sie sich verlassen könne. Sie hat auf den Rat der Sozialarbeiterin gehört und endlich alle Familienmitglieder über ihr Schicksal aufgeklärt. Auch ihre Chefin weiß jetzt Bescheid. Schluss mit dem Versteckspiel! Und dann sagt die Frau, die nicht gebildet ist, noch etwas Bemerkenswertes: „Am Geburtstag darf man sich doch etwas wünschen? Ich wünsche mir für Kholosa, dass sie einmal eine gute Schule besuchen und dort alle Sprachen lernen darf.“ Bislang hat Kholosa kein einziges Wort gesprochen. Sie ist in ihre Geschenke vertieft. Nascht von ihrem Geburtstagskuchen. Und drückt Stoffelefant Ferdinand, das Maskottchen von „Ein Herz für Kinder“, an sich. Zieht man an der Kordel des Plüschtiers, ertönt eine Spieluhrmelodie. Kholosa stutzt. Dann beginnt sie, im Takt mit den Füßchen zu stapfen – und für eine Millisekunde huscht tatsächlich ein Lächeln über ihr Gesicht. Es wärmt sofort den ganzen Raum. Kholosa tanzt.
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