Als wir die Stadt das letzte Mal verließen, fuhren wir in einem hupenden Pick-Up an flehenden und rufenden Menschen vorbei in den abgesperrten Flughafenbereich von Port au Prince. Wir gingen durch ein leeres Flughafenterminal hinaus aufs Rollfeld. Um uns herum Zelte, Helikopter, US-Soldaten. Eine Propeller-Maschine brachte uns nach Santo Domingo (Dominikanische Republik). Kein Zoll, keine Passkontrolle…
Das war Ende Januar, zwei Wochen nach dem Beben mit mehr als 220 000 Toten. Es war das Ende unserer ersten Haiti-Reise, auf der wir Hilfsorganisationen bei ihrem lebensrettenden Noteinsatz begleitet hatten.
Jetzt, drei Monate später, sind wir vier BILD-Reporter zurückgekehrt. Mit einem Linienflug von New York. Männer in neongelben Westen winken die Maschine ein. Vor dem Zoll spielt eine haitianische Band. Wir füllen Formulare aus, warten am Gepäckband. Die Welt ist wieder ein Stück normaler in Haiti – aber noch endlos weit davon entfernt, normal zu sein.
Unser Auftrag: Wir wollen sehen, wie die Hilfe weitergeht in der zerstörten Stadt. Wollen beschreiben, wie Helfer und Betroffene arbeiten, damit es wieder ein menschenwürdiges Leben gibt. Wir werden wieder die Orte besuchen, an denen wir schon im Januar waren, als wir mit dem Hilfsflieger, organisiert von „Ein Herz für Kinder“, nach Haiti kamen.
Jürgen Schübelin von der „Kindernothilfe“ führt uns durch die Stadt. Die Verkehrsinseln sind nicht mehr mit Obdachlosen bevölkert (geschätzte 1,5 Millionen Menschen haben bei dem Beben ihr Zuhause verloren), dafür gibt es jetzt überall Zeltstädte. Es wird mehr gelächelt und weniger geweint.
Kaum sind wir zu Fuß unterwegs, umringen uns Kinder. Wenn wir ihnen nichts geben können, sind sie dennoch freundlich und dankbar, einfach nur zu reden und ein bisschen zu spielen. Ein Junge, er nennt sich Baby Cherry und ist höchsten zehn Jahre alt, erzählt, dass er keine Eltern mehr hat und ganz allein ist. Dann lacht er laut auf.
Der zerstörte Präsidentenpalast, einst der Stolz der Hauptstadt. Er ist auch nach drei Monaten noch eine Trümmerburg, noch immer krankhaft imposant. Bagger tragen ihn Stück für Stück ab. Menschen stehen auf Ruinen und brechen Eisen heraus, um es zu verkaufen. Auf kleinen Geröllhaufen warten die Verkäufer: Süßigkeiten, Bilder, Blumen aus Metall, Medikamente, auch Krücken für die Amputierten – die ganze Stadt ist ein Markt. Wer nichts verkauft und nicht bettelt, arbeitet. Viele Männer tragen grell-gelbe Shirts. Sie sind im Cash-for-Work-Programm: Mit Geld der Regierungen wird das große Aufräumen finanziert.
Was ist dran an den Bandenaufständen? Wie gefährlich ist die Situation in der Stadt?
Jürgen Schübelin sagt: „Natürlich gibt es Kriminalität – wie in jeder anderen Großstadt auch. Nicht mehr und nicht weniger.“ Aber es gibt auch Gerüchte von Unruhen, weil der Sprit knapp wird. Wir sehen nichts davon.
Das Grauen nach dem Beben ist nicht verschwunden, die Menschen haben sich nur so gut es geht damit arrangiert. Wir hören sogar einstudierte Bettellieder: „I am blind, I am hungry, give me food.“ Der Hunger ist echt, die Not ist für Hunderttausende gigantisch.
Warum nicht gemeinsam darüber singen?
Die Stadt riecht nicht mehr nach Tod, sondern an vielen Ecken nach Urin. Die Menschen haben die Straße übernommen. Restaurants haben wieder geöffnet, aber kaum einer kann sie sich leisten.
Und dann gibt es diese Orte, an denen es doch noch nach Tod riecht. Vielleicht ist es auch nur Einbildung. Trümmerberge wurden auf fußballfeld-großen Flächen verteilt und planiert. Zwischen den Steinen liegen die zermalmten Knochenreste der Toten, die nie geborgen wurden. Auf diesem Horror-Schutt werden nun neue Zeltstädte errichtet.
Das Leben muss weitergehen. Nein, es muss neu beginnen in Haiti.