Der zweite Baum gleich hinter der Brücke der Kikinyanga Road links. Hätte die Hölle eine Adresse, dann wäre es diese.
Wir sind zu Hause bei Elizabeth – einem von fast 50 000 Straßenkindern in der kenianischen Millionenstadt Nairobi. Elizabeth wird Weihnachten vier, aber das kleine Mädchen mit dem viel zu großen blauen Kleid weiß nicht, was Weihnachten ist. Auch nicht, was Geschenke sind.
Elizabeth weiß nur, dass der stinkende Wasserlauf, neben dem sie unter freiem Himmel schläft, ihr Badezimmer ist. Sie wäscht sich mit dem Wasser, das so verdreckt ist, dass nicht einmal die durstigen Straßenhunde ihre Zunge reinhalten.
Mit ihrer Mutter Emily (29) und rund 30 anderen Menschen haust Elizabeth auf dem kargen Lehmboden. Mit zwei hat Elizabeth zuletzt in einem Bett geschlafen. Da hatte die Mutter kurz einen Job als Wäscherin. Nach vier Monaten ging‘s wieder auf die Straße zum Betteln.
Nachts, wenn es auch in Nairobi kalt wird, rücken die Menschen am Baum Nr. 2 näher zusammen. Schutz vor Kälte, vor Vergewaltigern, vor Dieben. Dabei ist in der Hölle nichts zu holen – außer Industriekleber.
Alles, was Elizabeths Mutter besitzt, passt in eine Tüte. Wichtigster Inhalt – eine Plastikflasche gefüllt mit ein bisschen Industriekleber. Kinder, Teenager, Erwachsene, alle hängen an ihren Plastikflaschen wie Babys am Schnuller, Elizabeth manchmal auch schon. 20 Cent kostet die Tagesration.
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Der Kleber ist der Stoff, der die Straßenkinder von Nairobi am Leben hält. Und der sie tötet.
Berauscht von den giftigen Dämpfen, haben die Kinder keine Angst – nicht vor Hunger, vor Schmerzen, nicht vor der Polizei, die manchmal wahllos in die Menge schießt. Die „Schnüffelkids“ bleiben dann apathisch sitzen. „Es gibt in der Hölle sowieso kein Entkommen“, sagt Emily, die Mutter.
Für Elizabeth vielleicht doch. Ihre Hoffnung trägt eine weiße Nonnentracht, heißt Schwester Damian (69). Die deutsche Ordensfrau kümmert sich seit drei Jahren um die Ärmsten der Armen in Nairobi.
Fast 200 Kinder gehen auf die Schule der „Mission der Schwestern vom kostbaren Blut“. Von 7 Uhr bis 17 Uhr bekommen die Kinder Unterricht – und drei Mahlzeiten.
Im nächsten Sommer schon könnte Elizabeth auch in diese Schule gehen. Wie Stella (10). Auch sie lebte vorher auf der Straße. Jetzt will sie Pilotin werden. Um fünf Uhr steht sie auf, marschiert fast eine Stunde zur Schule – ihr Lieblingsweg! Nur eines mag Stella an der Schule nicht: „Den Sonntag, da gibt es keinen Unterricht!“ Und keine Mahlzeiten.
Schule statt Schnüffeln. „Es ist nicht so schwer“, sagt Schwester Damian. „20 Euro im Monat kostet es, einem Kind eine Chance auf eine menschenwürdige Zukunft zu schenken.“
Elizabeth weiß nicht, was Zukunft bedeutet. Vielleicht morgen irgendetwas essen, irgendwie überleben. Wie die Hunde, die das Wasser in ihrem Badezimmer verachten. Vielleicht lernt Elizabeth, was ein Geschenk ist.