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Nürnberg

„Im Himmel wird dir nichts wehtun“

05.12.2018
Lina an ihrem ersten Kindergartentag
Fotos: Daniel Löb
Lina an ihrem ersten Kindergartentag Fotos: Daniel Löb

Lina hat den Kampf gegen den Krebs verloren. EHfK unterstützt die Forschung gegen die Krankheit

Es gab ungefähr 1000 schreckliche Momente seit der Diagnose im März 2017. Aber dieser, sagt Nadine (42), sei der schlimmste gewesen: Ihrer Tochter zu erklären, dass sie sterben wird. Lina die Angst vor dem Tod zu nehmen, obwohl die eigene Angst alles beherrschte.

Wir sitzen am Wohnzimmertisch von Familie Meier, auf der Couch schräg gegenüber hört Linas kleine Schwester Lilly (6) Musik auf dem iPad. In der Ecke steht schon ein Tannenbaum, an der Wand hängen bunte Familienbilder. Auf den ersten Blick ist die Welt hier in Ordnung – auf den zweiten unvollständig: Vor fast genau einem Jahr starb Lina hier, sechs Tage nach ihrem siebten Geburtstag.

Diese Geschichte hat kein Happy End. Und trotzdem macht es Sinn, sie zu Ende zu lesen. Lina ist eines der Kinder, dessen Schicksal am kommenden Samstag in der großen „Ein Herz für Kinder“-Gala erzählt wird. Ihr Anfang vom Ende, er begann vor 20 Monaten.

Unzertrennlich: Lina (r.) und ihre Schwester Lilly
Unzertrennlich: Lina (r.) und ihre Schwester Lilly

„Lina war ein absolutes Wunschkind, immer gesund und topfit“, erklärt Papa Andy (43), „als sie letztes Jahr im März diese Erkältung bekam, dachten wir uns nicht viel dabei, meine Frau sagte sogar noch zu ihr: ,Von einem Schnupfen wirst du nicht sterben.‘ In den kommenden Tagen aber begann plötzlich eins ihrer Augenlider zu hängen, außerdem fiel sie immer wieder einfach um, deshalb gingen wir zum Kinderarzt.“

Der erkannte sofort den Ernst der Lage. Es könne ein Schlaganfall oder eine Hirnhautentzündung sein, sagte er – oder „etwas anderes im Kopf“.

Der Kinderarzt schickte die Familie sofort in die Klinik zum MRT und ein paar Stunden später war klar, was dieses „etwas andere im Kopf“ war: Die Ärzte fanden ein tischtennisballgroßes Geschwür am Stammhirn, diagnostizierten DIPG (diffuses intrinsisches Ponsgliom). Der bösartige Hirntumor tritt fast ausschließlich bei Kindern zwischen vier und neun Jahren auf – und ist ein Todesurteil.

Schon gezeichnet von der Krankheit: Lina mit ihrer Schwester und ihren Eltern
Schon gezeichnet von der Krankheit: Lina mit ihrer Schwester und ihren Eltern

Rund 4000 kleine DIPG-Patienten sterben weltweit jährlich, weil es keinerlei erfolgreiche Therapieform gibt. Die Stiftung für Innovative Medizin in München forscht unter der Leitung von Dr. Alexander Beck derzeit an einer neuen Technologie, deren Ziel es ist, kindliche Gehirntumore besser bekämpfen zu können.

Die BILD-Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ unterstützt das Projekt. Lina wird damit nicht wieder lebendig – aber vielleicht rettet ihre Geschichte eines Tages andere Kinder.


Linas Überlebenschance lag bei 0,01 Prozent. Die Ärzte gaben ihr neun Monate.
„Wir haben von ihnen verlangt, dass sie ehrlich zu uns sind, uns keinen Quatsch erzählen“, sagt Nadine, „trotzdem will man das als Mutter erst einmal nicht glauben, sucht nach Wegen und Möglichkeiten, sie doch noch zu retten, googelt jede Nacht nach Lösungen. Ich dachte im allerersten Moment an zwei bis drei Jahre Onkologie – aber auch, dass sie es schaffen wird.“

Der aggressive Tumor aber hatte andere Pläne: Schon drei Tage nach der Diagnose konnte das Mädchen, das so gern Ballett getanzt hatte, nicht mehr laufen. Zwei Wochen später startete eine sechswöchige Chemotherapie. 33 Behandlungen, jedes einzelne Mal bekam Lina ihre „Schlafmilch“, wurde für die Behandlung sediert. Bis zu 33 Tabletten nahm sie jeden Tag – und trotzdem ging es weiter rasant bergab.

                            Medikamente haben Linas Gesicht und ihren Körper aufgeschwemmt, doch sie macht das Victory-Zeichen
Medikamente haben Linas Gesicht und ihren Körper aufgeschwemmt, doch sie macht das Victory-Zeichen

15 bis 16 Mal musste sie sich täglich übergeben. Ihr einst zartes Gesicht quoll durch die Medikamente auf, sie war kaum wiederzuerkennen, verlor ihre schönen, blonden Haare. Im Sommer fuhr die Familie noch einmal zum Meer mit ihr, eigentlich sollte es ein Traumstrand in der Ferne werden, doch sie schafften es nur bis nach Cuxhaven, denn Lina war inzwischen ein Pflegefall.

„Wir bauten ihr Krankenbett im Wohnzimmer auf “, sagt Papa Andy. Die Dekorateurin und der Verkaufsleiter kümmerten sich rund um die Uhr um ihre Tochter, waren für sie Krankenschwester, Pfleger, Koch, Psychologe, Entertainer in einem.

Immer tiefer sackte die Erkenntnis, dass Lina es wirklich nicht schaffen wird – immer klarer wurde, dass sie es ihr irgendwie sagen müssen. Die Eltern bereiteten das Thema vor, lasen Bücher, sprachen aber zunächst nur allgemein mit ihr darüber – sagten ihr nicht, dass sie demnächst gehen muss.

Sie vereinbarten spielerisch eine Geheimsprache für den Fall, dass Lina ihre Sprache komplett verliert. Einmal die Hand drücken heißt: „Ich habe Durst.“ Zwei Mal die Hand drücken heißt: „Ich liebe dich.“

Im Herbst schrieb Lina einen Brief an den Himmel: „Gibt es bei Euch auch was zu spielen und Spielplätze?“, fragte sie. Und: „Wenn Ihr auch Sterne sehen könnt, würde ich sie gerne mit Euch anschauen. Ist man da oben gesund? Wenn Ihr ja sagt, freu ich mich sehr.“

Am Nikolaustag 2017 feierte die Familie Linas siebten Geburtstag. Mit Torte, Gästen, Feuerwerk vor dem Haus. „Sie wollte diesen Tag unbedingt noch erleben“, sagt Nadine. „Sie konnte an ihrem Geburtstag nur noch ein paar Wörter sagen. Wir wussten, dass es zu Ende geht. Ins nächste Kinderhospiz hätten wir sie nicht bringen können, das hätte sie nicht mehr geschafft. Also war klar, dass es zu Hause passieren würde.“

Keine 150 Stunden nach ihrem Geburtstag hörte Lina auf zu atmen. „Ich lag bei ihr, hatte sie in meinem Arm. Ich hatte tagelang nicht geschlafen, weil wir jeden Moment damit rechneten, dass sie geht. Als Lina starb“, sagt Nadine, „schlief ich vollkommen erschöpft neben ihr ein.“

Bei Linas Trauerfeier weinten mehr als 600 Menschen um das Mädchen. Weihnachten war 2017 kein Weihnachten. Linas Schwester Lilly hatte plötzlich zwei Kinderzimmer, doppelt so viel Spielzeug. Aber dass ihre große Schwester, zu der sie immer aufschaute, plötzlich nicht mehr da war, das verstand sie so wenig wie Linas Freundinnen.

Die Familie wird psychologisch betreut, im Frühling begannen die Eltern wieder zu arbeiten – der Alltag kam zurück, auch wenn er jetzt ein ganz anderer ist. „Wir haben dieses Haus für vier Personen gebaut“, sagt Andy, „nicht für drei.“

Nur noch zu dritt: Nadine und Andy Meier mit Tochter Lilly. Auf dem Tisch sind Fotos von Lina aufgereiht
Nur noch zu dritt: Nadine und Andy Meier mit Tochter Lilly. Auf dem Tisch sind Fotos von Lina aufgereiht

Jetzt, genau ein Jahr danach, ist es wieder besonders hart. „Wir durchleben ihre letzten Tage noch einmal ganz intensiv“, sagt Nadine, zeigt uns Familienfotos, die keine zwei Jahre alt sind – aus einer Zeit, in der das Wort Krebs noch Strand und Urlaub bedeutete und nicht Tod.

Wir gehen zu einem Regal neben der Couch, dort liegt ein Gipsabdruck von Linas Hand. Nadine nimmt ihn und drückt ihn zwei Mal. Wo auch immer Lina jetzt ist: Die Geheimsprache gilt.

Themen: Chemotherapie Forschung Krebs