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„Ein Herz für Kinder“

Als Jessica den Tod sah

01.10.2008

Jessica hatte Leukämie und fast keine Chance zu überleben. „Ein Herz für Kinder“ half. Heute ist sie gesund und glücklich, geht in die 6. Klasse.

Auf diesem Foto (oben) ist Jessica 15 Monate alt. Sie hat Leukämie und fast keine Chance zu überleben. Doch ihre Eltern, die Nachbarn, das ganze Heimatdorf finden sich damit nicht ab. Lesen Sie, wie Mut, Liebe und Selbstlosigkeit das Kind heilten.

Regungslos liegt sie im Krankenbett. Das Gesichtchen ist aufgequollen, ihre Haare sind fast alle ausgefallen. Jessica (15 Monate) ist dem Tod näher als dem Leben. Anja (30) will ihre sterbenskranke Tochter drücken, sie ganz fest halten. Aber ihre Umarmungen würden dem Kind nur noch mehr Schmerzen zufügen, weil sein Körper durch die Bestrahlungen so geschwächt und geschwollen ist.

„Leukämie.“ Immer und immer wieder denkt Vater Bernd (30) über die Bedeutung des Wortes nach. Blutkrebs. Warum gerade unsere Kleine? Wie konnte das passieren? Hätten wir sie schützen können? Jessicas Eltern stellen sich viele Fragen in dieser Winternacht, in der sie die unfassbare Diagnose erhalten. Aber: Noch wissen sie nicht, dass sie bald nur noch eine einzige Frage beschäftigen wird. Wird Jessi leben?

„Ich weiß nicht, wie es ist, wenn einen ein Zug überrollt“, sagt Mama Anja. „Aber schlimmer als zu erfahren, dass mein Kind stirbt, kann es nicht sein.“

Alles begann so erschreckend belanglos. Beim Baden ihrer kleinen Tochter bemerkte Anja, dass die Lymphknoten geschwollen sind. Sie fuhr mit Jessica zum Kinderarzt. „Sie war immer gesund. Aber als ich mit ihr beim Arzt ankam, waren ihre Arme plötzlich mit kleinen, roten Punkten übersät. Ich hatte furchtbare Angst“, sagt Anja. Stecknadelkopfgroße Einblutungen. Aus dem Nichts! Sofort wurde Jessica in die Kieler Uniklinik überwiesen. Noch am selben Abend bestätigte ein Bluttest den Verdacht des Kinderarztes: Leukämie.

„Ich wusste nicht, ob ich weinen, schreien oder um mich schlagen sollte. Wir waren so wahnsinnig hilflos“, erinnert sich Jessicas Mutter. Die Kleine musste sofort im Krankenhaus bleiben, die Ärzte begannen direkt mit der Chemotherapie. Aber die Zellen in Jessicas kleinem Körper vermehrten sich weiter. Ihre einzige Überlebenschance: eine Knochenmark-Transplantation. Doch es gab keinen passenden Spender. Vater Bernd: „Wir dachten, dann suchen wir eben einen. Aber die Bluttests sind teuer – und werden nicht von der Krankenkasse bezahlt.“

Ohne Spender war Jessica zum Tode verurteilt. Ihre Eltern wollten sich damit nicht abfinden. Sie kämpften – und bekamen Unterstützung von ihrem gesamten schleswig-holsteinischen Heimatdorf. „Die Hilfe war überwältigend“, sagt Vater Bernd. „Mein Chef hat mich freigestellt, damit ich am Bett meiner Kleinen bleiben konnte. Außerdem hat er ein Benefiz-Fußballspiel veranstaltet.“ Der TSV Böklund kickte gegen St. Pauli. Die Nachbarn organisierten ein Konzert. Sie sammelten Spenden und schickten alle zu Bluttests – für Jessica.

Es war ein Kampf gegen die Zeit. Jessicas Körper wurde immer schwächer. Der Einzige, der es schaffte, ihr Kraft zu geben, war ihr dreieinhalb Jahre älterer Bruder André. Er legte sich zu ihr ins Krankenbett, kuschelte und spielte mit ihr. Die Geschwister mussten einen Mundschutz tragen, weil die kleinste Infektion Jessica hätte töten
können. André schob mit seiner Schwester Spielzeugautos über die weißen Kliniklaken, erzählte ihr Geschichten aus dem Kindergarten – und überredete sie zu essen. Jeden Tag aufs Neue. Die Ärzte machten den Eltern wenig Hoffnungen. Vater Bernd: „Es hat mich innerlich zerrissen, dass ich meiner Kleinen nicht helfen konnte.“

Eine Tante wandte sich verzweifelt an „Ein Herz für Kinder“. Der Verein half. Er bezahlte die Kosten für die Blutuntersuchungen, um einen Spender zu finden. Außerdem rief BILD die Leser auf, sich für Jessica testen zu lassen.

Und tatsächlich: Nach drei Monaten wurde ein Spender gefunden, dessen gesunde Stammzellen Jessica transplantiert wurden. Womit die Eltern nicht gerechnet haben: Die Wochen nach dem rettenden Eingriff wurden zum noch schlimmeren Albtraum. Lungenentzündung, künstliches Koma, durch die Bestrahlung durchlöcherte Venen. Jessicas Körper schwoll an und schmerzte. Sie bekam eine Medikamentenvergiftung, litt unter Knochenschwund und Gürtelrose. Die Eltern mussten zusehen, wie ihre Kleine innerhalb weniger Wochen zum zweiten Mal mit dem Tod rang.

Doch Jessica kämpfte. 15 Monate nach der Diagnose durfte sie das Krankenhaus verlassen. Wiederum ein Jahr später gaben die Ärzte Entwarnung: Jessica werde gesund werden. Ihr Körper nahm die Stammzellen an.

Heute ist Jessica zwölf Jahre alt. Ihre honigblonden Haare trägt sie schulterlang. Sie geht in die sechste Klasse der Gesamtschule – und ist geheilt. Viele Familien zerbrechen an solch einer Krankheit. Aber Jessicas Eltern hat sie zusammengeschweißt. „Zwei Jahre nach der Leukämie-Diagnose war ich wieder schwanger“, erzählt Mutter Anja. „Ich hatte wahnsinnige Angst. Was, wenn Jessis Krankheit doch irgendwas mit meinen Genen zu tun hatte?“Doch Aaron kam gesund zur Welt. Und vier Jahre später Leon. Die Großfamilie lebt noch immer in Struxdorf. „Wir würden nie wegziehen. Dieses Dorf hat uns getragen“, sagt Vater Bernd. Jessica ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Sie lernt, Brände zu löschen, Knoten zu binden, Notrufe abzusetzen. Jessica will helfen. Weil ihr geholfen wurde. An die langen Monate im Krankenhaus kann sich Jessica heute kaum erinnern.

Nicht an die Spritzen, die vielen Infusionen, die Tränen ihrer Mama. Aber sie erinnert die Schmerzen – und den Moment, als sie von ihrem Bruder getrennt wurde. Jessica: „Ich musste auf die Intensivstation, da durfte André nicht mit rein. Er gab mir nur noch Küsschen durch die Scheibe.“

Noch heute ist ihr Bruder (16) immer für sie da. Er tobt mit ihr durch den Garten, er lacht mit ihr und er nimmt sie in den Arm, wenn sie wieder die Angst packt. Die Angst, dass ihr Zuhause noch mal das Krankenhaus wird. Vater Bernd nimmt die beiden in den Arm, sagt: „Natürlich haben wir Angst, wir alle. Immer noch. Aber man kann sein Leben nicht nur auf Sorgen aufbauen. Wir versuchen dankbar zu sein, nicht ängstlich.“

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